Vordenkerrolle: Zum Innovationsbedarf der Medienanstalten

Dieser Artikel erschien zuerst am 4. September 2010 in epd Medien, H. 69/2010, S. 5-8

Die berühmt gewordene Wortschöpfung des Philosophen Odo Marquard, der 1973 mit „Inkompetenzkompensationskompetenz“ selbstironisch die Lage seiner in die Jahre gekommenen Wissenschaft beschrieb, könnte heute für die Orientierungssuche der Landesmedienanstalten stehen. Deren Sinn- und Identitätskrise erweist sich nicht zuletzt daran, dass sie an vielen Stellen das typische Verhalten alteingesessener Organisationen zeigen: Ähnlich wie etwa Musikindustrie oder Tageszeitungsverlage wollen sie ein im Grunde überholtes Geschäftsmodell mit aller Macht erhalten. Stur beharren sie auf liebgewonnenen Denkfiguren und rufen nach strengeren Vorschriften, wenn die Welt sich ändert.

Schon 1997, als der 3. Rundfunkänderungsstaatsvertrag das Beteiligungsmodell durch das Zuschaueranteilsmodell ersetzte, begannen die ursprünglichen Fundamente der Medienaufsicht zu bröckeln. Zwar wurden damals komplexe Überwachungsmechanismen in Form von gemeinsamen Kommissionen und Organen wie der KEK eingerichtet, doch die Maßstäbe erwiesen sich mit einem Mal als unscharf und in wachsendem Maße interpretationsbedürftig. Dieser Paradigmenwechsel vergrößerte die Macht der Landesmedienanstalten nur scheinbar.

Die Regulierungsmaschine läuft seither hochtourig, aber vielfach ins Leere. Ausgerechnet der bisher einzige bedeutende Anlass, bei dem unter Berufung auf die neue Marktanteilsgrenze konkret reguliert wurde, war nicht nur unter den Regulierern selbst höchst umstritten, sondern stellte sich auch im Nachhinein als äußerst problematisch heraus: Das Verbot der Fusion von Springer-Verlag und ProSiebenSAT.1 im Jahr 2006.

Die Landesmedienanstalten sind längst zu Zuschauern einer Entwicklung verdammt, die sich ihrem Einfluss entzieht. Mit der Abschaffung des Beteiligungsmodells hatten die Länder sie eines Großteils ihrer Verhandlungsmacht beraubt, während zugleich die Digitalisierung der Verbreitungswege und das Internet ihre eigentliche Geschäftsgrundlage, die Verwaltung eines Mangels im besten Interesse der Gesellschaft, weitgehend auflösten. Daher wirkt das argumentative Festhalten am Rundfunkbegriff (etwa bei der willkürlichen Definition der Lizenzierungspflicht von Video-Angeboten im Internet) hilflos und überholt. In dieser Situation sind sie freilich nicht allein: Gleiches gilt für die immer kurzatmigeren Detailreformen der Länder am Rundfunkstaatsvertrag, der auch durch seine Umbenennung in Rundfunk- und Telemedienstaatsvertrag noch lange keinen Anschluss an die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts gefunden hat. Auch hier tut ein grundlegend neues Konzept Not.

Kein knappes Gut

Das Kompetenzspektrum der Landesmedienanstalten hat sich so immer weiter reduziert, sei es positivrechtlich oder de facto. Es gibt kaum Anlässe, einem Sender die Lizenzerteilung zu verweigern oder auch nur an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. Warum soll ein Veranstalter noch die Lizenz für ein mit hohen inhaltlichen Auflagen belastetes Vollprogramm beantragen, wenn die damit verbundenen Vorteile – nämlich privilegierte Verbreitung über Antenne und Kabel – längst uninteressant geworden sind? Rundfunkdistribution ist kein knappes Gut mehr, und folglich setzen die Aufseher kaum mehr besondere Anforderungen in Sachen Programmstruktur und Programmqualität durch. Zugleich lässt die EU die Zügel bei den Werberichtlinien immer lockerer, wie zuletzt unter anderem beim Product Placement, und erodiert damit ein weiteres Aufgabenfeld der Medienaufsicht.

Was vom Kernbestand bleibt, ist das Durchwinken von Lizenzanträgen und -verlängerungen, die Überwachung formeller Jugendschutz- und Werbe-Regelungen, der Betrieb der KEK und die Durchsetzung der Gewinnspielsatzung. Alle diese Funktionen könnte unter heutigen Bedingungen jede ganz gewöhnliche Behörde übernehmen, und zwar ohne komplizierte Konstruktion von Staatsferne und Aufsicht durch gesellschaftlich relevante Gruppen. Denn um Verbraucher- und Datenschutz, Telekommunikationsnetze, Wettbewerb und die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften in den Bereichen Jugendschutz, Werbung und Presserecht kümmern sich vielfach Organe mit längerer Tradition und größerer Kompetenz.

Medienpolitische Vision

Beispiele wie das gescheiterte Handy-TV haben gezeigt, dass die Landesmedienanstalten sich – bei allem guten Willen – mitunter sogar in die Rolle des Innovationsverhinderers manövriert haben. Das mobile Fernsehen sollte nur unter regulatorischen Hochsicherheitsbedingungen stattfinden dürfen, als handle es sich um das einzige verbleibende politische Kommunikationsinstrument. In einer Situation, in der nicht einmal die Medienindustrie selbst eine klare programmliche Vision präsentieren konnte, war das Scheitern so vorprogrammiert.

Dabei gibt es durchaus „Marktlücken“, in denen es bislang an medienpolitischer Vision mangelt: Die Medienanstalten könnten sich zu Vordenkern innovativer Medienpolitik auf deutscher und europäischer Ebene aufschwingen und sich als Akteure und integrative Netzknoten einer weitaus größeren medienpolitischen und -regulatorischen Debatte Profil verschaffen. Dazu gehört unter anderem die in der Idee des Public Value verankerte systematische Mitwirkung und Einbeziehung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen sowie deren gestaltende Moderation, und mithin die Öffnung der Black Box administrativer Entscheidungsprozesse. Dank ihrer Finanzierung aus einem Anteil an den Gebühreneinnahmen der Öffentlich-Rechtlichen wären die Regulierer dazu günstig aufgestellt.

Eine gute Gelegenheit hätte sich beispielsweise in der Debatte um den Drei-Stufen-Test geboten, doch statt den wie selbstverständlich hingenommenen Primat kommerzieller Überlegungen über inhaltliche Anforderungen zu hinterfragen, wurde dieser lediglich bekräftigt. Die Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) deckte zwar akribisch methodische und prozedurale Mängel auf, ließ aber die Gelegenheit verstreichen, die Diskussion produktiv zu nutzen. Der begehrte Einfluss auf die Öffentlich-Rechtlichen blieb damit weiterhin aus.

Systematische Beteiligung

Im Geiste des „Förderns und Forderns“ der Privatfunker hätte die Medienaufsicht zum Beispiel die geschlossene Struktur des Drei-Stufen-Tests hinterfragen und offensiv die systematische Beteiligung ihrer eigenen Klientel anbieten können. Was, wenn bei jeder genehmigungspflichtigen Initiative der Öffentlich-Rechtlichen ein Aufruf an die Privaten ergangen wäre – nicht etwa zu zeigen, welchen wirtschaftlichen Schaden ihnen das neue Angebot zufügt, sondern ob und wie sie eine äquivalente publizistische Leistung zu Marktbedingungen erbringen wollten?

Ein ähnliches Bild bot sich im Rahmen des Gutachtens über die Rolle der Finanzinvestoren in den Medien 2008, dessen Motivation unter anderem darin bestand, aus der Natur der Eigentümer von Fernsehsendern Schlussfolgerungen für die Medienregulierung abzuleiten. Dieser Versuch musste, wie auch die Autoren der Studie zwischen den Zeilen erkennen ließen, scheitern. Denn gefordert waren erneut eher Kartellrecht und Wirtschaftspolitik, während sich die inhaltlichen und pluralismusrelevanten Fragen unter den Bedingungen wirtschaftlicher Globalisierung zunehmend unabhängig vom Eigentum stellen. Sie basieren auf einer Reaktionsverbundenheit, die zumindest in Sachen Programm und Vermarktung das Handeln klassischer Medienunternehmen mit demjenigen Private-Equity-kontrollierter Firmen konvergieren lässt, egal ob die Eigentümer nun Permira heißen oder Bertelsmann.

Auch die zuletzt durch die DLM vom Zaun gebrochene Nachrichten-Diskussion sollte wohl die inhaltliche Kompetenz der Medienaufseher verfechten, entwickelte sich aber zu kaum mehr als einem Sturm im Wasserglas. Die ProSiebenSAT.1-Medienpolitikerin Annette Kümmel brachte die Ironie der Debatte beim diesjährigen DLM-Symposium auf den Punkt: Erst wird dem Konzern die Fusion mit Springer verwehrt, weil er dadurch zu viel Meinungsmacht zu erlangen droht, doch wenn das Unternehmen freiwillig seinen Nachrichtenanteil zurückfährt, ist es auch nicht recht.

Enges Konzept des Rundfunks

Nicht nur fehlt die Unterstützung der Länder für etwaige neue gesetzliche Auflagen – die ganze News-Debatte verkennt den seit den achtziger Jahren eingetretenen, tiefgreifenden Strukturwandel: Was sich Politik und Medienaufseher unter seriösen Nachrichten vorstellen und von ihnen erhoffen, datiert aus der Zeit des öffentlich-rechtlichen Monopols und der Frequenzknappheit. Mit dem kommerziellen Fernsehen von heute, in dem die vielbeschworene Suggestivkraft von ganz anderen Programmgattungen ausgeht und globalisierte Geschäftsinteressen den Ton angeben, ist das hergebrachte Konzept jedoch kaum vereinbar.

Die öffentliche Aufgabe der Medien muss vielmehr unter den Rahmenbedingungen des dualen Rundfunksystems, des heutigen Medien- und Meinungsmarktes und der Gesellschaft im 21. Jahrhundert systematisch neu gefasst werden. Mit Unterstützung des Gesetzgebers könnten die Landesmedienanstalten das „Medien“ in ihrem Namen endlich ernst nehmen und sich vom viel zu eng gewordenen Konzept des Rundfunks verabschieden. Denn dem hängen sie lediglich deshalb an, weil sie nur dort noch über einen Hauch an rechtlicher Autorität verfügen – wie verzichtbar und zahnlos diese auch längst geworden sein mag.

Der eigentliche Geist des Rundfunkstaatsvertrages und der Medienanstalten, nämlich die Unterstützung und Absicherung einer pluralistischen Öffentlichkeit und das Verhindern missbräuchlicher Ausgestaltungen, ist indes keineswegs überholt. Aber es ist höchste Zeit, die Funktionsbereiche zu trennen.

Inhaltsleere Bürokratie

Auf der einen Seite stehen die Zuständigkeit für die spitzfindige Überwachung von Detailvorschriften bei der Werbung und letztlich redundante Jugendschutzeinrichtungen. Mit Meinungs- und Angebotsvielfalt hat das allenfalls äußerst indirekt zu tun. All diese Funktionen könnten in normale Behördenstrukturen integriert werden, und auch die längst inhaltsleere Lizenzierungsbürokratie gehört abgeschafft oder zumindest drastisch vereinfacht. Auf der anderen Seite steht unangefochten die gesellschaftspolitische Aufgabe der Medienregulierung.

Ein wichtiger Schritt dorthin wäre eine enge und proaktive Zusammenarbeit der Medienanstalten mit der Bundesnetzagentur, dem Bundeskartellamt, den Datenschutzbeauftragten, Verbraucherzentralen, Wirtschafts- und Justizministerien und nicht zuletzt der Europäischen Kommission. Alle diese Einrichtungen nehmen direkten Einfluss auf die gesamte Bandbreite der Medien, sind aber aus ihren jeweiligen Blickwinkeln nur selten spezifisch an Pluralismus interessiert. In diesen angrenzenden Politikbereichen stünde es dringend an, die verfassungsrechtlichen und medienpädagogischen Anforderungen an Medieninhalte gestaltend und nachhaltig zu vertreten. Vielfaltsrelevante Medienpolitik könnte auf diese Weise breit verankert werden, statt im eigenen Saft des Rundfunk-Paralleluniversums zu schmoren.

Gelungene Beispiele gibt es durchaus schon: Das Medienkompetenzangebot handysektor.de etwa vernetzt eine jugendgerechte pädagogische Ansprache mit konkreten Verbraucherinformationen, Technik-Infos und Anleitungen zum Selbermachen. Es ist ein Service für die Emanzipation der Nutzer von den Interessen einer kommerziell geprägten Umgebung.

Anwälte der Mediennutzer

Inzwischen ließ ausgerechnet die Europäische Kommission einen multidimensionalen Medienpluralismus-Monitor erarbeiten (vgl. epd Medien 64/2009), der die Vielfaltsicherung als Aufgabe eines flexiblen, alle Mediengattungen und -infrastrukturen übergreifenden Risikomanagements betrachtet. Zwar weiß die EU mit ihrer eigenen Schöpfung noch nicht recht etwas anzufangen, doch konsequent weiter gedacht, könnte ein solcher Ansatz wegweisend sein, um eine starre Regulierung, die ständig von der Wirklichkeit überholt wird, anpassungsfähiger zu machen, ohne ihre Ziele zu kompromittieren. Es ginge also eher darum, bei sich abzeichnenden Fehlentwicklungen gezielt umzusteuern, als ex ante lähmende Vorschriften zu erlassen. Doch die deutschen Regulierer waren hier, wie bei einigen anderen sektorspezifischen EU-Initiativen auch, auffällig unbeteiligt.

Vielfaltsicherung ist heute nicht mehr darauf angewiesen, einer erlesenen Handvoll Veranstalter binnenpluralistische Auflagen zu machen, um dem Missbrauch knapper Ressourcen vorzubeugen. Als Anwälte der Mediennutzer müssen die Landesmedienanstalten heute schon eher die Infrastruktur selbst sichern und aktiv fördern, die es einer Vielzahl von Teilnehmern erlaubt, sich unter gleichen Voraussetzungen Gehör zu verschaffen, am aktuellen Geschehen teilzunehmen und ihren Geschäften nachzugehen. Die Aufsicht über elektronische Programmführer und die umfangreichen Medienkompetenz-Initiativen sind davon erst ein Teilgebiet; Netz-und Dienstneutralität, Geschäftspraktiken von Providern, Versorgungssicherheit oder Fragen des Urheberrechts und Rechtemanagements sind weitere Beispiele, die ein Engagement lohnen.

Wenn sie die Debatte über demokratie- und pluralismusrelevante Aspekte des Internets und der digitalen Medien nicht langfristig dem inzwischen sogar das Bundesverfassungsgericht beratenden Chaos Computer Club überlassen will, könnte die Medienaufsicht ihre Inkompetenzkompensationskompetenz genau an solchen Schnittstellen zwischen Wirtschaft, Technik und den Bedürfnissen der Öffentlichkeit unter Beweis stellen.

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