Pluralismus-Algebra. Eine EU-Studie will die Informations- und Angebotsvielfalt der Medien messen

Dieser Artikel erschien zuerst in epd Medien, Heft 64/2009, S. 2-5

Nicht weniger als eine innovative Grundlage für die Medienregulierung erwartete die Europäische Kommission von ihrer Auftragsarbeit mit dem sperrigen Titel „Unabhängige Studie über Indikatoren für Medienpluralismus in den Mitgliedsstaaten – auf dem Weg zu einem risikobasierten Ansatz“. Bereits am 8. Juni stellte das beauftragte Forscherkonsortium unter Führung der Universität Löwen auf einem Workshop mit Interessenvertretern in Brüssel den Media Pluralism Monitor (MPM) vor; die Veröffentlichung der endgültigen Fassung der Studie steht in diesen Tagen an.

Das Ziel der Übung besteht darin, einen EU-weit einheitlichen Maßstab für das schwer fassbare – und noch schwieriger quantifizierbare – Konzept des Medienpluralismus zu entwickeln. Vorsichtigerweise betonte die Europäische Kommission, dass es ihr zunächst nur um eine Methodik gehe; ob und wie der MPM schließlich angewendet wird, soll erst im nächsten Schritt entschieden werden, wenn die neue Kommission im Amt ist.

Zwischen den EU-Institutionen

Doch bereits jetzt muss der Monitor strengen Kriterien genügen. Abgesehen davon, dass er wissenschaftlich möglichst unangreifbar und umfassend sein soll, steht er vor der Herausforderung, den widerstreitenden Interessenlagen der verschiedenen EU-Institutionen standhalten zu müssen. Denn die Initiative für die Studie geht auf den „Boogerd-Quaak-Bericht“ des Rechts- und Innenausschusses im Europäischen Parlament zurück, der 2004 unter dem Eindruck der Medienmacht des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi entstanden war. Die Parlamentarier forderten eine aktivere Rolle der EU gegenüber den Mitgliedsstaaten in Sachen Presse- und Informationsfreiheit und wünschten sich Garantien für die kulturelle Vielfalt des Medienangebotes.

Aus Sicht der Europäischen Kommission haben die Medien aber nur am Rande mit Bildung und Kultur zu tun, sondern sind in der Hauptsache ganz gewöhnliche Waren und Dienstleistungen auf dem EU-Binnenmarkt. Daher liefern sich ausgerechnet die beiden Ressorts „Informationsgesellschaft“ und „Wettbewerb“, vertreten durch die rührigen Kommissarinnen Viviane Reding und Neelie Kroes, laufend Auseinandersetzungen um die Deutungs- und Gestaltungshoheit über die Medien. Den Einzelstaaten fahren sie dabei in erster Linie in Angelegenheiten von Wettbewerbsverzerrung und bei der Durchsetzung grenzüberschreitender Geschäftsmodelle in die Parade.

Konflikte mit dem mächtigen Europäischen Rat, der sich aus den Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, und nationalen Interessen sind so vorprogrammiert – hierzulande stritt man sich zuletzt beispielsweise um den „Drei-Stufen-Test“ bei den Öffentlich-Rechtlichen, die „Regulierungsferien“ für das VDSL-Netz der Deutschen Telekom oder eine dienstneutrale Frequenzvergabe.

Auftraggeber der Medienpluralismus-Studie ist die Generaldirektion „Informationsgesellschaft“, welche die Zuständigkeit für Medien eher zufällig geerbt hat. Eigentlich mit dem Ausbau der Informations- und Kommunikationstechnologie beschäftigt, schreibt sie sich Themen wie Mobilfunk-Roaming, Breitband-Ausbau und ambitionierte Forschungs- und Entwicklungsvorhaben im IT-Bereich auf ihre Fahnen. Lediglich eine abteilungsübergreifende „Media Task Force“ ist, neben anderen Aufgaben, mit dem Pluralismus betraut.

Der Risikomanagement-Ansatz

Diese Arbeitsgruppe hatte denn auch die rettende Idee, wie die widerstreitenden institutionellen Interessen auf einen Nenner gebracht werden könnten: durch den Risikomanagement-Ansatz. Das Konzept ist eher aus der Atomindustrie bekannt, gewinnt jedoch bei näherem Hinsehen als Methode zur Sicherung des Medienpluralismus auf europäischer Ebene überraschenden Charme.

Klassische, deterministische Regulierung macht feste Vorschriften für einzelne Komponenten, z.B. Beteiligungsgrenzen an Medienunternehmen, wie in der bis 1996 gültigen Fassung des deutschen Rundfunkstaatsvertrags (RfStV). Solche Grenzwerte sind leicht zu überprüfen, laufen aber Gefahr, das kreative Potenzial einer Branche auf Beharrungs- und Umgehungsstrategien statt auf organische Weiterentwicklung und Innovation zu lenken.

Risikobasierte Regulierung wird dagegen vorzugsweise auf komplexe, vieldimensionale und dynamische Systeme angewendet. Sie entwirft Szenarien davon, was zu vermeiden und was wünschenswert ist, schreibt aber nicht im Detail vor, auf welchem Wege das so definierte Ziel erreicht werden soll. Regulatorische Rahmenbedingungen sollen neue technologische oder gesellschaftliche Entwicklungen auf diese Weise leichter aufnehmen können und Innovation sogar ausdrücklich anregen.

Die Zuschaueranteilsgrenzen im aktuellen RfStV würden nach diesem Modell keinen automatischen Abwehrreflex auslösen, sondern es müsste zunächst einmal inhaltlich bewertet und öffentlich diskutiert werden, ob tatsächlich vorherrschende Meinungsmacht gegeben ist. Dabei kämen auch Argumente auf den Tisch, die nichts mit Marktanteilen oder Beteiligungsverhältnissen zu tun haben, wie z.B. Programminhalte. Erst nach einem entsprechenden Konsens würde konkret eingegriffen.

Risikomanagement (nicht nur) in den Medien ist daher per se politisch. Die Definition der Risiken kann gestaltet werden, Interessensvertreter werden gehört, und selbst die Frage, ob der Schadensfall eingetreten ist oder einzutreten droht, ist letztlich verhandelbar. So behalten die EU-Mitgliedsstaaten ihre Souveränität, die Kommission bekommt ihren freien Wettbewerb der Ideen und Waren, und das Parlament seinen normativen Überbau.

Kritieren des Pluralismus

Die Gutachter haben für den Media Pluralism Monitor insgesamt 166 relevante Kriterien identifiziert, die sich auf drei einander vielfach überlappende Hauptkategorien verteilen. Die rechtliche Dimension untersucht die jeweils vorhandenen gesetzlichen Regelungen für Meinungs-und Informationsfreiheit, unabhängige Aufsichtsinstanzen, Fusionskontrolle, Minderheitenschutz, öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Bürgermedien usw. Auf der wirtschaftlichen Ebene werden Daten zu Medienkonzentration, Marktanteilen, Finanzausstattung und quantitativer Vielfalt von Publikationsorganen erhoben.

Unter die dritte, etwas hilflos als soziodemographisch beschriebene Kategorie fällt der ganze Rest, der mit der praktischen Umsetzung von Pluralismus im Medienalltag und dem gelebten Verhalten seiner Akteure zu tun hat: Politische Tendenzen der Berichterstattung und Nutzerakzeptanz der entsprechenden Publikationen, redaktionelle Unabhängigkeit, kulturelle, soziale und religiöse Ausgewogenheit, Leistungsfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien, aber auch z.B. der Anteil von importierten Inhalten und unabhängigen Produktionen. Durchaus pikant ist dabei im Kommissions-Innenverhältnis, dass die Autoren der Studie ausgerechnet den Online-Aktivitäten der öffentlich-rechtlichen Medien eine herausgehobene Bedeutung zuweisen.

Um zu eindeutigen und vergleichbaren Aussagen zu kommen, muss der MPM für jeden der 166 Indikatoren einen Messwert festlegen. In einigen Fällen ist der relativ simpel: Eine Frage wie „Existieren Konzentrationsgrenzen für das Eigentum an Tageszeitungen?“ erlaubt nur drei Antwort-Alternativen: Nein, ja und wirkungslos, ja und wirksam. Die Mehrheit der Kriterien wird jedoch durch Indexwerte beschrieben. Die MPM-Variante des Zuschaueranteilsmodells im Fernsehen besteht z.B. in einer Kumulation der Marktanteile, die den vier größten Eigentümern (Top-4) zurechenbar sind. Und der Pluralismus bei Publikumszeitschriften wird durch das Verhältnis der Titel mit unterhaltenden Inhalten zur Zahl aller erhältlichen Titel ermittelt. Zu jedem Kriterium hält der Monitor eine detaillierte, oftmals recht aufwändige Bedienungsanleitung bereit.

Dann benötigt jeder Indikator noch einen individuellen Grenzwert, anhand dessen das Risiko für den Pluralismus eingeschätzt werden soll. Der MPM wendet dabei das Ampel-Prinzip an, in dem die Farben mit hohem, mittlerem und geringem Risiko korrespondieren. In den oben genannten Beispielen steht rot für das Fehlen rechtlicher Konzentrationsgrenzen bei Zeitungen, für einen TV-Zuschaueranteil der Top-4 von zusammen mehr als 50%, und für eine Übermacht unterhaltender Zeitschriftentitel jenseits der 90%-Marke.

Als Endergebnis dieser Fleißarbeit wirft der Monitor schließlich ein Risikoprofil des jeweils untersuchten Medienmarktes aus, das nur noch anhand von Bevölkerungszahl und Bruttoinlandsprodukt gewichtet wird.

Gewichtungsprobleme

Um es vorweg zu nehmen: Der MPM ist seriös und qualifiziert. Trotzdem macht er sich an zahlreichen Stellen angreifbar. Woran bemisst sich etwa, ob ein Selbstkontrollgremium wie der Deutsche Presserat hinreichend gut funktioniert? Welches Ausmaß politischer Einflussnahme auf die Medien geht gerade noch durch? Ab wann gilt die Beteiligung von Bloggern an der öffentlichen Meinungsbildung als wesentlich? Ist bei den Eigentumsverhältnissen im Fernsehen heute noch eine separate Betrachtung der Terrestrik sinnvoll? Und ist es nicht widersprüchlich, Unterhaltung – jedenfalls solche aus europäischer Herstellung – als Beitrag zur kulturellen Vielfalt zu betrachten, ihr zugleich jedoch an anderer Stelle vorzuwerfen, sie ziehe Aufmerksamkeit von journalistischen oder politischen Inhalten ab?

Der Anspruch der Studie, mit objektivierbaren Werten zu arbeiten, wird gerade bei derart weichen Kriterien rasch ad absurdum geführt, da es sich im Idealfall zwar um wissenschaftlich informierte, letztlich aber doch subjektive Einschätzungen handelt. Und die Qualität von Medieninhalten, so Gutachter Robert Picard, habe man aus Mangel an allgemein akzeptierten Kriterien lieber erst gar nicht ins Auge gefasst.

Doch sogar bei den mathematisch ermittelten Faktoren bleibt die Frage der Methode offen; die Autoren der Studie merken in vielen Fällen gleich selbst an, dass andere Berechnungswege gleiche Autorität für sich beanspruchen könnten. So wären z.B. die Zuschaueranteile ebenso anhand der Top-8 oder des aus dem Kartellrecht bekannten „Herfindahl-Hirschman-Index“ kalkulierbar.

Erst recht strittig sind die am Ende aufleuchtenden Ampelfarben – ein Umstand, der freilich durch die Wahl des risikobasierten Ansatzes ausdrücklich gewollt ist. Die Leiterin des Forscherkonsortiums, Peggy Valcke, betonte denn auch auf dem Brüsseler Workshop, dass ein Rotlicht keineswegs als automatischer Auslöser irgendwelcher Maßnahmen zu verstehen sei, sondern allenfalls als Fingerzeig.

Und darin liegt in der Tat eine der entscheidenden Stärken des MPM. Selbst wenn viele seiner Kriterien unscharf oder Berechnungsformeln willkürlich gewählt sein mögen, ist er dennoch die erste gemeinsame Währung für Medienpluralismus in den 27 EU-Mitgliedsstaaten und darüber hinaus. Mag auch seine Aussagekraft für jedes einzelne Land und jeden einzelnen Indikator begrenzt sein, verspricht gleichwohl der innereuropäische Vergleich höchst interessante und augenfällige Ergebnisse – eine Aussicht, die nicht allein Berlusconi unbehaglich sein dürfte.

Weiterentwicklung der Medienregulierung

Zum anderen könnte der MPM auch eine signifikante Weiterentwicklung der Medienregulierung insgesamt auslösen. Noch immer werden Medienkategorien nach traditionellen Kriterien getrennt betrachtet; während z.B. das Fernsehen längst fest im Griff der Regulierer ist, mühen sich die selben Aufsichtsorgane beim Internet sichtlich um Traktion. Diese längst obsolete Trennung findet sich zwar auch im MPM wieder, sie wird aber durch die Kombination der Vielzahl und Bandbreite von Indikatoren neutralisiert.

Nicht weniger verdienstvoll ist der – sicherlich noch nicht zu Ende gedachte – Versuch, die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der Medienpolitik endlich in einem gemeinsamen Modell zusammenzuführen und damit den inneren Widersprüchen und der Unzeitgemäßheit vieler Regulierungen entgegenzuwirken. Denn auch das kann bei Anwendung des Media Pluralism Monitors passieren: Dass sich liebgewonnene Vorschriften als rundum überflüssig erweisen.

Die vollständige Studie ist im Internet unter der folgenden Adresse abrufbar: http://ec.europa.eu/information_society/media_taskforce/pluralism/study/index_en.htm


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